AUGUST

Kurzgeschichte von Johanna Sebauer

(Auszug)

Als nebenan die Larsens in die alte Backsteinvilla zogen, stand ich frierend in der Garage und leerte Frostschutzmittel in den Kühler meines alten Toyotas. Gerade erst war ich von meiner langen Auszeit in den saftigen Wäldern Mittelamerikas zurückgekehrt und musste nun Arbeiten erledigen, die sich während meiner Abwesenheit angesammelt hatten. Es schneite heftig an diesem Tag. Ich weiß noch, wie bezaubert ich war. Hatte in der endlosen, feuchtschweren Hitze der Tropen beinahe vergessen, wie wunderschön dicker, flauschiger Schnee sein konnte. Die Larsens kamen mit viel Gepäck. Er, Herr Larsen, stand in der Einfahrt und dirigierte die Möbelpacker, seine Frau stand in einem dicken braunen Wintermantel hinter ihm. Große Flocken verfingen sich in ihrem Pelzkragen. Ich sah ihnen durch mein Garagenfenster dabei zu, wie sie Kiste um Kiste ihr neues Heim anfüllten. Die Möbelpacker mussten zunächst durch knietiefen Schnee stapfen, bis sie allmählich einen festen Pfad von ihrem Lieferwagen bis zur weißen Eingangstür getreten hatten. In ihren angestrengten Gesichtern, meinte ich zu erkennen, welchen Ärger ihnen der frische Schnee bereitete. Ein schneefreier Tag wäre für einen Umzug vermutlich besser gewesen, aber manche Dinge kann man sich nicht aussuchen. So ist das eben.

 

Mich hingegen erfreute der Schnee. Er beruhigte mich. Das tut er immer. Wenn eine Schneedecke auf der Landschaft liegt, denke ich manchmal, sie tut dies nur, um die Welt für eine Weile vor uns zu verstecken. Um uns mahnend daran zu erinnern, unseren Blick auf Wesentliches zur richten und nicht abgelenkt zu werden von all dem Trubel, der unter ihr schlummert. Liegt der Schnee jedoch zu lange auf der Erde, werde ich unruhig. Rastlos beinahe. Ich muss die Erde sehen, denn sie ist es, der ich einen Großteil meiner Zeit widme. Ich bin Gärtner, müssen Sie wissen, und als solcher ist die Erde, nun ja, ich würde sagen, mein Alles. Ohne sie geht nichts. Kann ich sie nicht sehen, so fehlt mir etwas. Aber ich übe mich in Gelassenheit. Dies ist schließlich die wichtigste Eigenschaft des Gärtners. Gelassenheit ist eine Tochter der Zeit. Und davon Davon habe ich schließlich schon einige hinter mir.

 

Die Larsens waren angenehme Nachbarn. Ich mochte sie gerne. Er grüßte stets freundlich, wenn er morgens über den Kiesweg im Vorgarten zu seinem schwarzen Zweisitzer schritt, um in die Arbeit zu fahren, während ich auf der anderen Seite des Zaunes meine Hecken goss. Sie erinnerte sich immer an meinen Geburtstag und brachte mir selbstgebackenen Himbeerkuchen mit ganz wunderbar weichem Biskuitboden an die Haustür. Es war ein problemloses Zusammenleben zwischen Nachbarn mit der nötigen Portion an Höflichkeit und der nötigen Portion an Distanz, die das Tür-an-Tür-Wohnen einem abverlangt. Ich habe in meinem Leben schon an vielen Orten, neben vielen Nachbarn gewohnt und immer wieder gesehen, dass Nachbarn, egal wo auf der Welt, eine ganz besondere Art von Beziehung pflegen. Nachbarschaftsbeziehungen entstehen immer im Lichte größtmöglicher Höflichkeit und größtmöglichen Respekts. Man wohnt schließlich für unbestimmte Zeit nebeneinander und Unhöflichkeit könnte sich irgendwann einmal rächen. Den Sprung von Höflichkeit zu Freundschaft schaffen nur wenige Nachbarn, denn Nähe kann für Nachbarn ebenso gefährlich werden. Nachbarn möchten nicht zu viel voneinander wissen, möchten sich nicht zu sehr in das Leben der anderen einmischen, möchten nicht in etwas hineingezogen werden, aus dem sie aufgrund des Nebeneinanderwohnens nur schwer wieder hinausfinden. Also navigiert man als Nachbar lieber im sicheren Gewässer der höflichen Distanziertheit.

 

Natürlich ist es aber so, dass man als Nachbar – und auch das ist dem Nebeneinanderwohnen sozusagen immanent –  im Laufe der Zeit, viele Dinge erfährt. Man fragt nicht danach und dennoch gelangen sie irgendwie zu einem. Ob man will oder nicht. So war es unausweichlicherweise auch bei den Larsens und mir. In mehr als zwanzig Jahren Nachbarschaft kommt einiges zusammen.

 

Um die Geschichte der Larsens zu erzählen, möchte ich bei August beginnen. August, dem Kater. Als Frau Larsen ihn sich anschaffte, saß Herr Larsen schon seit anderthalb Jahren im Rollstuhl. Ein winziges Blutgerinnsel, das unkontrolliert in seinem Körper herumgespült wurde, bis es an die falsche Stelle gelangte, hatte ihn innerhalb von Minuten von einem älteren, agilen Mann in einen Pflegefall verwandelt. Er konnte ab diesem Zeitpunkt weder laufen noch sprechen und die Ärzte meinten, die Chancen, dass er es je wieder tun würde, seien verschwindend gering. Es war ein bizarres Bild, das ich plötzlich von meinem Garten aus auf der anderen Seite des Zaunes zu sehen bekam. An Sommertagen rollte Frau Larsen das Krankenbett des regungslosen Herrn Larsen unter einen Sonnenschirm auf der Terrasse. Seine Augen waren auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet, Spuckefäden spannten sich in seinen Mundwinkeln. Der Kater August, der nun plötzlich auch im Hause der Larsens wohnte, tollte daneben in der Wiese.

 

August wuchs schnell zu einem stattlichen Tier heran. Er war eines der schönsten Katzengeschöpfe, die ich je gesehen habe. Er war groß und hatte ein dichtes, langes Fell. Kastanienbraun mit dunklen Streifen, die sich in den irrsten Kringeln über seinen gesamten Katzenkörper wanden. Es war ein wahrlich majestätischer Anblick, wenn er auf einem der Zaunpfosten oder auf dem Geländer meiner Veranda saß und den Garten mit seinen aufmerksamen, bernsteinfarbenen Augen beobachtete. August war ein begnadeter Jäger. Beinahe jeden Tag kam er mit einer neuen Beute im Maul in den Garten der Larsens und manchmal auch in meinen getrabt. Er brachte Mäuse, Maulwürfe, kleine Vögel, auch eine Taube war einmal dabei. Dabei miaute er so laut, dass ich ihn selbst dann noch hörte, wenn ich in meinem Wohnzimmer saß und meine alten Schallplatten hörte. Unverkennbar war der durch das tote oder halbtote Tier gedämpfte Klang des Stolzes aus der Kehle des August. Oft legte er mir dieses tote oder halbtote Tier vor die Verandatür und wartete darauf, dass ich etwas damit tat. Man sagt, Katzen würden den Menschen halbtote Beute bringen, weil sie der Meinung seien, wir wären sehr große, sehr unfähige Katzen, die das Jagen nie gelernt hätten. Sie glauben also, sie müssten es uns beibringen, so wie sie das auch mit ihren eigenen Jungen machen. Eigentlich, kann man sagen, ist dies eine sehr aufmerksame Geste von einer Haustierspezies, die nicht gerade für ihre Dankbarkeit und Treue berühmt ist. Die von August erlegten Tiere begrub ich, wenn er sie nicht selbst mit Haut und Haaren verschlang, meist am Ende meines Gartens unter dem Flieder. Ich muss zugeben, mir graute immer davor, aber das tote Tier auf der Veranda liegenzulassen, wäre natürlich auch keine Möglichkeit gewesen.

 

(…)

 


Der Rest der Geschichte ist in der Anthologie Junge Literatur Burgenland Vol 1 zu lesen. Dort ist sie 2018 erschienen.